Gundula's Blog

Warum Wissen über die Pferde-Anatomie so wichtig ist

Ein guter Trainer kann das Exterieur eines Pferdes ,lesen' – und mögliche Probleme frühzeitig erkennen. / Foto: Sabrina Mallik

Kennen Sie den: Wenn man einem Medizinstudenten ein Telefonbuch in die Hand drückt, dann ist seine erste Frage nicht „Was?" oder „Wozu?", sondern: „Bis wann?“

Spaß beiseite: Bei Begriffen wie musculus, musculi, ligamentum, os ossis ... kann einem schon der Kopf zu rauchen beginnen, wenn man kein Medizinstudent und vor allem noch nie mit Latein in Kontakt gekommen ist. Dennoch sollte man sich von ein bisschen Latein nicht abschrecken lassen oder die Flinte vorzeitig ins Korn werfen, denn: Alles ist machbar – und anatomisches Grundwissen für jeden Trainer eine wertvolle, ja unverzichtbare Hilfe bei seiner Arbeit.

Anatomie ist die Lehre vom inneren und äußeren Aufbau eines menschlichen oder tierischen Körpers. Klingt wahnsinnig kompliziert, ist es aber in Wahrheit nicht. Beginnen wir mit dem Grundgerüst des Körpers, dem Skelett: Das Skelett eines Pferdes hat 252 einzelne Knochen – und bei ca 90 % dieser Knochen liegt eine Verbindung in Form von beweglichen Gelenken vor. Je nach Art des Gelenks ergeben sich auch seine Bewegungsmöglichkeiten. Betrachten wir als Beispiel das Hüft– oder Schultergelenk beim Pferd, es ist ein Kugelgelenk. Stellt Euch eine Kugel in einer Pfanne vor, daraus ergibt sich die größte Bewegungsmöglichkeit in vielerlei Ebenen bzw. Richtungen.

Im Vergleich dazu gibt es auch ein Scharniergelenk, ein Beispiel dafür wäre das Fesselgelenk beim Pferd. Diese Gelenkart lässt nur Bewegungen in einer Ebene zu, wie man etwa den Deckel einer Kiste auf- und zumachen kann. Beim Gelenk heißt diese Bewegung Beugung und Streckung. Aber auch Verbindungen, die nur von Muskulatur und Faszienzügen hergestellt werden, sind vorhanden – der Rumpftrageapparat! Das bedeutet, der Rumpf ist nur mit Bändern und Muskulatur an den Schulterblättern aufgehängt.

Und da haben wir auch schon die nächsten Bausteine: die Faszien, also jenes Bindegewebe, zu dem u. a. auch Sehnen, Bänder gehören und die Muskulatur. Vereinfacht ausgedrückt verbinden diese beiden letztgenannten Bausteine die Knochen miteinander, wodurch letztlich Bewegung ermöglicht wird.

Ein weiteres anatomisches Grundgesetz lautet: Wenn ein Muskel mehr arbeitet, wird dieser im Verhältnis zur restlichen Muskulatur stärker (im Fachjargon – hypertroph). Ein Muskel, der wenig arbeitet oder eingeschränkt ist, wird weniger (hypotroph).

Aus dem Gesamtbild der vorhandenen Muskulatur, aus der Stellung der Extremitäten und allen Körperwinkeln ergibt sich das, was Pferdeleute das „Exterieur" nennen – also der Körperbau. Im ersten Moment meint man: „Naja, das ist halt so. Macht ja nix“. Aber genau dieses Körperbild verrät einem guten, kundigen Pferdemenschen bereits viel von den möglichen Vorzügen und Problemen eines Pferdes. Denn das Exterieur ist maßgeblich für das Bewegungsmuster – jede Bewegung beginnt zuerst einmal muskulär.

Daher ist ein guter Trainer irgendwo auch ein Künstler, denn er kann das Körperbild eines Pferdes in einem gewissen Maß gestalten, ähnlich einem Bildhauer, der eine Skulptur formt. Er kann aus einem Haflinger natürlich keinen Trakehner machen oder umgekehrt, aber er kann in einem gewissen Rahmen das Pferd formen, indem er Bewegungsmuster trainiert bzw. ,neu aufsetzt' und dadurch auch die Muskulatur des Pferdes verändert.

Ein guter Trainer kann und soll aber auch erkennen, ob das Bewegungsmuster eines Pferdes seine Gesundheit eher fördert oder eher strapaziert. Läuft das das Pferd mit einem ,schädigenden' oder ,verbrauchenden' Bewegungsmuster, kommt es früher oder später zu gesundheitlichen Problemen wie Sehnenverletzungen, Arthrose u.a.

Ein Beispiel: Physiologisch betrachtet rollt das Pferd über seinen Schwerpunkt nach vorne. Das bedeutet, dass es sein Gewicht mit dem Kopf so weit nach vorne bringt, dass es mit dem Vorderbein nach vorne treten muss. Die Hinterhand läuft nur mit, wie ein Beiwagerl. Will man das Pferd im Rahmen verkürzen, d.h. den Zügel kürzer nehmen, und die Hinterhand ist noch nicht stark genug, verändert sich das Bewegungsmuster. Das Pferd kann nicht mehr über seinen Schwerpunkt rollen, sondern muss sich darüber ziehen - Pferde sind Kompensationskünstler per excellence.

Will man nicht nur am langem Zügel „dahinschlendern“, ist es wichtig, die Muskulatur der Hinterhand zu kräftigen, bis diese bereit ist, den Schub nach vorne zu leisten. Dies nimmt natürlich einige Zeit in Anspruch (wir sprechen hier durchaus von Jahren!). Und eines sei gesagt: Ein dicker „Popsch“ heißt nicht, dass er kräftig ist! Vergleicht eine italienische Mami mit einem Marathonläufer.

Meint man, Zeit sparen zu müssen und kommt das Pferd in das Bewegungsmuster, dass es sich mit der Vorhand über den Schwerpunkt zieht, verwendet es dafür eine andere Muskulatur. Die Krux daran ist, wenn diese Muskeln zu stark trainiert werden, ziehen sie auf Grund ihres anatomischen Verlaufes, das Vorderbein nach hinten – das Vorderbein wird rückständig oder sogar nach innen rotieren. Ein Teufelskreis beginnt ... Ein guter Trainer kann schon anhand des Exterieurs erkennen, wie sich das Pferd bewegt und wo die Probleme liegen – und entsprechend reagieren.

Ich möchte daher jedem Trainer nahelegen, sich intensiv mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Denn durch gesundes, pferdegerechtes Training sollen unsere Pferde schöner und stolzer werden – und nicht umgekehrt. Wir brauchen Buchstaben, um lesen zu können. Um Bewegungsmuster analysieren zu können, brauchen wir die Anatomie. Denn mit diesem Wissen im Hinterkopf kann man im Training besser agieren und verbrauchende Bewegungsmuster durchbrechen!

Und ich kann Euch aus Erfahrung sagen: Bewegungsmuster zu erforschen kann sogar süchtig machen! Man glaubt es kaum – ist aber so ...

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